Zwischen Selbstsorge und Hyperindividualismus
In der Alltagskommunikation vieler Menschen – insbesondere in der urbanen, akademisch geprägten Mittelschicht – hat sich ein spezifischer Ton etabliert. Wenn Freund:innen sich „gespiegelt“ fühlen, „ihre Grenzen kommunizieren“ oder über „ihre Bedürfnisse sprechen“, klingt das vertraut: Es ist die Sprache des therapeutischen Diskurses. Diese Kommunikation, einst Ausdruck emanzipatorischer Befreiung, ist zu einer dominanten kulturellen Praxis geworden – mit ambivalenten Folgen.
Vom Behandlungsraum in den Alltag: Die Veralltäglichung psychotherapeutischer Sprache
Was ursprünglich der psychotherapeutischen Beziehung vorbehalten war – das Sprechen über Emotionen, Beziehungsmuster, innere Konflikte – hat längst seinen Weg in den Alltag gefunden. Die Soziologin Eva Illouz beschreibt diesen Wandel in ihrem Buch Die Errettung der modernen Seele (2008) als kulturelle Transformation: Der therapeutische Diskurs sei zur „qualitativ neuen Sprache des Selbst“ geworden. Er ermögliche es, individuelle Erfahrungen als bedeutsam, erklärbar und bearbeitbar zu verstehen – auch außerhalb des klinischen Kontexts.
Illouz zeigt auf, wie der Freud’sche Gedanke der Selbsterkundung über populärkulturelle Kanäle wie Ratgeberliteratur, Film und Werbung Eingang in die Alltagskultur fand. Dabei wurde die Psyche als Ort der Wahrheit über das Selbst aufgewertet – ein Prozess, der mit den sozialen Umbrüchen der 1960er-Jahre einen politischen Charakter erhielt. Die Psychoanalyse diente der Emanzipation von Autoritäten, Normen und repressiven Familienstrukturen.
Der Preis der Selbstoptimierung: Therapiediskurs als Spiegel neoliberaler Ideale?
Doch in der Gegenwart zeigt sich auch die Kehrseite dieser Entwicklung: Der therapeutische Diskurs hat sich, so Illouz, vom emanzipatorischen Werkzeug zur neoliberalen Anpassungsstrategie gewandelt. Der Fokus auf das Ich, auf emotionale Selbstregulation und persönliche Resilienz, rückt strukturelle Missstände in den Hintergrund. Probleme wie soziale Ungleichheit, prekäre Beschäftigung oder psychische Belastungen durch gesellschaftlichen Druck erscheinen dann als individuelles Scheitern – nicht als systemisches Problem.
Die Soziologin Catrin Heite (2018) kritisiert diese Entpolitisierung des Leids in ihrem Beitrag „Vom Leiden zum Stigma: Psychisches Erleben im Kontext von Subjektivierung und Gouvernementalität“. Sie beschreibt, wie sich Menschen zunehmend selbst regulieren, um gesellschaftlich „funktionstüchtig“ zu bleiben – und damit psychische Gesundheit als Teil neoliberaler Subjektivierung internalisieren.
Sprache der Selbstfürsorge – oder Slang des Rückzugs?
Der Literaturkritiker Lionel Trilling nannte die therapeutische Sprache einst den „Slang unserer Kultur“. Sie ist ein Mittel der Selbstfürsorge, kann jedoch auch zum Instrument einer übermäßigen Selbstzentrierung werden. Der Diskurs rund um „toxische Beziehungen“, „Trigger“, „Grenzen“ oder „emotionale Sicherheit“ schafft zwar Bewusstsein für psychisches Wohlbefinden, doch er birgt auch die Gefahr, soziale Bindungen zu entpolitisieren und Verantwortlichkeiten einseitig zuzuweisen.
In einer Zeit, in der globale Krisen – von der Klimakrise über die Pandemie bis zu autoritären Tendenzen – kollektive Belastungen erzeugen, stellt sich die Frage: Reicht es noch, die eigene Befindlichkeit zu therapieren? Oder braucht es eine Rückkehr zu einem sozial eingebetteten Verständnis psychischen Leids?
Ein neuer Blick: Das Persönliche ist (wieder) politisch
Statt psychische Symptome rein individuell zu deuten, plädieren kritische Stimmen dafür, die „private Malaise“ als strukturelle Misere zu begreifen. Das bedeutet: Burnout als Folge von Arbeitsverdichtung, Angststörungen im Kontext sozialer Unsicherheit, Depressionen als Reaktion auf gesellschaftliche Entfremdung. Diese Perspektive erinnert an feministische Parolen der 1970er-Jahre: Das Private ist politisch – ein Satz, der angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse neue Aktualität gewinnt.
Quellen
- Illouz, E. (2008). Die Errettung der modernen Seele. Therapie, Emotionskultur und das Selbst. Suhrkamp.
- Heite, C. (2018). „Vom Leiden zum Stigma: Psychisches Erleben im Kontext von Subjektivierung und Gouvernementalität.“ In: Psychologie & Gesellschaftskritik, 42(1/2), 79–91.
- Trilling, L. (1972). Sincerity and Authenticity. Harvard University Press.